Unser gesamtes Erziehungs- und Bildungssystem beruht auf einer überlebten und nicht mehr funktionierenden Vorstellung vom lernen.
So sprechen wir zwar in den Lehrbüchern immer mehr davon, dass es sich bei Kindern um eigenständige und von Geburt an selbständige und lernende Individuen handelt, aber die gelebte Praxis ist das ganze Gegenteil.
Grundsätzlich ist einmal festzustellen, dass wir es hier wiederum weniger mit einem Erkenntnis-, als vielmehr mit einem Umsetzungsproblem zu tun haben. Ursächlich liegt es darin, dass die lehrenden Personen eben selber das Ergebnis einer veralteten Vorstellung von Lehren und Lernen sind. Sie kommen aus dem Gefängnis, in dem sie sitzen und gleichzeitig aber auch den Schlüssel dafür besitzen, um sich zu befreien, nicht heraus. Dafür ist es erforderlich, über Selbst- und Fremdreflexion die Dramen der eigenen Kindheit und Schulzeit zu erkennen und das eigene Wissen in Frage zu stellen. Letztlich geht es natürlich auch immer um Alternativen und eine persönliche Weiterentwicklung.
In diesem Prozess ist entscheidend, ob die Akteure ihre Erziehungs- und Lehrmaßnahmen darauf ausrichten, Verhalten zu verändern (Behaviorismus) oder verstanden haben, dass sich Verhalten nur dann zielführend, sinnvoll und dauerhaft verändern lässt – ohne die betreffende Person in ihrer Selbstentfaltung und Selbstwerdung zu verletzen – wenn sie dazu bereit ist, ihre innere Einstellung zu verändern. Eine funktionierende Praxis ist „Lernen am Modell“ oder durch das Vorbild.
Letztlich wird auch immer ausgeblendet, dass alle am Erziehungsprozess beteiligten Personen andere Vorstellungen von dem „… so sollst du sein …“ haben und die erzogenen oder lernenden Personen damit ihre Drehung um sich selbst verlieren und sich in ihrer ständigen Suche nach Anerkennung und Beachtung nur noch um die anderen Menschen drehen.
Da wir alle merken, dass es ein aussichtsloses Unterfangen ist, den erziehenden und lehrenden Menschen in unserem Umfeld zu gefallen, jeder andere Vorstellungen von uns hat, suchen wir aus enttäuschter Anerkennung nach Ersatzbefriedigungen, die sich dann in Süchten wieder finden. Und genau von diesen Süchten lebt unsere Gesellschaft.
Die gängige Praxis in unserer Gesellschaft ist es, und das geht spätestens in der Schule los, z. B. den Kindern in der Klasse eine Aufgabe zu geben. Das Ergebnis dieser Arbeit wird bei jedem Schüler einer Kontrolle/Bewertung unterzogen, die sich Note nennt. Was ist daran nicht förderlich? Die Gehirnforschung spricht davon, dass jedes Hirn einzigartig ist, dass jeder Mensch für sich zu seinen Erkenntnissen kommt und diese wiederum in sein weiteres Handeln einfließen lässt – das Bild des Konstruktivismus. Selbst die „moderne Psychologie“ definiert sich als die Lehre vom Verhältnis aus Wahrnehmung und Verhalten.
Nun können wir das Ganze auch bildlich darstellen. Dafür gilt es aber die Einzigartigkeit der Persönlichkeit zu erkennen und anzuerkennen. Die Gruppe oder Klasse besteht aus eine bestimmten Anzahl von Kindern, nennen wir sie Monika, Lisa, Marta, Klaus, Peter, Paul, Martin, Gustav. Sie alle haben eine Aufgabe. Bildlich dargestellt, sind die Personen ein Raabe, ein Affe, ein Marabu, ein Elefant, ein Goldfisch, ein Walross und ein kleiner Hund. Der Lehrer sitzt an seinem Tisch vor ihnen und sagt: „… damit wir zu einem vergleichbaren Ergebnis kommen, bekommt jeder die gleiche Aufgabe, auf den hinter euch stehenden Baum zu klettern.“
Und nun gibt es welche, die es schaffen, der Affe, der Rabe, der Marabu und die bekommen eine sehr gute oder gute Note und dann werden es welche nicht schaffen, der Elefant, der Goldfisch, das Walross und der kleine Hund und die bekommen eine schlechte Note oder bleiben gar sitzen.
Das praktizierte System hat gar nichts mit der Nutzung der ganz individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu tun, sondern es wird Gleichmacherei betrieben. Alle sollen auf ein Niveau gebracht werden, in der Industrie ist das die DIN EN ISO 9001. Eine solche Verfahrensweise trägt immer wieder zu einer andauernden emotionalen Verletzung und der Erfahrung „… das kann ich nicht, ich bin nicht gut genug …“ bei. Letztlich werden die Menschen durch ein solches Verhaltensmuster zu gesellschaftlichen Chamäleons entwickelt.
Die Arbeit mit Bewertungen – Noten sind ja nur ein Aspekt – sorgt auch beim Lehrpersonal für Frustration. Sie haben die Aufgabe, die Kinder auf ein Niveau zu bringen, die Schwachen ebenso, wie die Starken und in den seltensten Fällen funktioniert das im Sinne der Starken, sondern das Niveau fällt insgesamt ab. Auch die Pädagogen fragen sich natürlich, warum dieser oder jener Schüler nicht verstehen kann oder will. Nun, das Gehirn ist ebenso individuelle, wie die Persönlichkeit. Nicht alle werden Tischler oder Zimmerleute oder Arzt oder Apotheker. Jeder wird dann doch das, was ihm liegt. Nur die Schule leistet dazu keinen bis kaum einen Beitrag. Sie will nur Arzte und Apotheker und schafft Köche und Tischler und Zimmerleute. Es ist toll, wie aus wissbegierigen Kindern dressierte Wesen werden, auf Verhalten und zusammenhangsloses Wissen trainiert und in der Lage, auf Anfrage dieses Wissen von sich zu geben. Eben dieses Lernsystem sorgt für sinnloses Pauken, nicht verstehen und damit nicht anwenden können, für jährlich 250.000 Sitzenbleiber und gegenwärtig ca. 9 Mio. funktionalen Analphabeten in Deutschland – Tendenz steigend, denn es waren 1993 mal nur 2 Mio.
Kommen wir zu den Tieren zurück, so halten wir uns den Elefanten doch auch nicht auf einer Säule in einem Aquarium und versuchen es auch gar nicht, wir nutzen ihn als Lasttier oder eben nicht artgerecht im Circus. Der kleine Hund hat in der realen Welt auch nicht die Aufgabe, auf Bäume zu klettern und wir messen ihn nicht an seiner Fähigkeit, zu fliegen. Aus einer Schnecke machen wir kein Rennpferd, maximal eine Rennschnecke. Die Tiere dürfen bleiben, was und wer sie sind. Menschen sind auch nur dann glücklich und kreativ, wenn sie ihre ganz persönlichen Potentiale entdecken und entfalten können. Das lernen sie aber nicht, wenn sie in 10 oder 12 Schuljahren alle über einen Kamm geschoren werden, wenn sie auf Geheiß handeln und für Noten lernen.
Auch unsere Personalpolitik baut auf dem untauglichen System der Arbeit an den Schwächen auf, Verringerung der Schwächen. Genau das geht nicht, es ist ein Unding. Was sinnvoll ist und immer wieder funktioniert, ist die Stärken erkennen und sie zielgerichtet zu entwickeln. Stärken sind Potentiale und wir brauchen eine Potentialentfaltung und nicht ein Bohren in der Wunde.
Potentialentfaltung bedeutet aber tatsächliche Menschenkenntnis unter Nutzung der Spiegelneuronen und kein immer wieder anzutreffendes Menschenbild im Sinne von Schubladendenken und sich damit immer wieder sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Menschenkenntnis ist das Können von Vorgesetzten, die Mitarbeiter zu verstehen und nicht ausschließlich die Erwartung, dass die Mitarbeiter alle Vorgesetzten verstehen im Sinne einer Einheitssprache und dem Einheitsverständnis nach Ludwig Wittgenstein´s gescheiterten Lehrversuchen.
Ich selber habe über 15 Jahre als angestellter Außendienst jährlich viele Trainings, Schulungen, Führungskräftetreffen und anderes erlebt. Die Nachhaltigkeit war nach 3 – 5 Tagen dahin. Es waren alles nur Verhaltenstrainings, ich bezeichne es heute immer als „Affen dressieren“ und bei solchen Maßnahmen fallen wir logisch nach ganz kurzer Zeit in das alte Verhalten zurück. Verhalten wird durch Einstellungen bestimmt. Will ich also Verhalten dauerhaft verändern und als Trainer (Erzieher, Pädagoge) nicht nur Effekthascherei betreiben, muss ich an den Einstellungen der Menschen arbeiten. All jene potentiellen Auftraggeber, die bei der Auftragsvergabe nach Branchenkenntnissen fragen, wollen Affen dressiert haben. Wer Verhalten verändern will, muss Menschen kennen, muss die Fähigkeit besitzen, sie einzuladen und zu begeistern und nicht nur Strohfeuer zu entfachen im Sinne von „tschacke“ oder Feuerläufern und Pferdeflüsterern. Trainings für einen Tag sind gut für den Geldbeutel der Trainer, für die Teilnehmer sind sie nicht nur kostenlos, sondern auch um sonnst. Leider erwarten zu viele Auftraggeber und Teilnehmer aber genau das Affen dressieren als schnelle Methode und verstehen eben nicht die Unmöglichkeit von Nachhaltigkeit. Um bei den Affen zu bleiben, auch der muss täglich neu trainiert werden, die einfache Vorführung reicht nicht aus.
Potentialentfaltung bedeutet, sich ausprobieren, Dinge versuchen, ohne dabei bewertet oder beurteilt zu werden. Das Leben ist Versuch und Irrtum. Was wir aber versuchen zu vermitteln, ist den Irrtum auszuschließen und damit verlernen wir das Lernen und senken die Frustrationsschwelle. Wir können schon als Schulkinder und erst recht nicht mehr als Erwachsene mit Misserfolgen umgehen. Wir sind aber als wissbegierig und unendlich lernen wollend zur Welt bekommen. Schauen wir uns z. B. den Prozess von Laufen lernen an. Es dauert mehr als 1000 Versuche, bevor ein Kind die ersten Schritte macht und noch nie hat ein Kind nach 300 oder 400 Versuchen gesagt „lass ich es doch einfach sein, es geht auch so, wenn ich am Boden liegen bleibe“. Wie anders ist das aber mit der Schule. Mehr als 30 % der Kinder der 3. Klassen haben Angst vor der Schule, haben bereits körperliche Symptome von Krankheit durch ihre täglichen Erlebnisse und können oder wollen dem Druck nicht mehr stand halten
Worin besteht die Alternative? Es ist die Kombination aus Lernen am Modell und dem Konstruktivismus.
Lernen am Modell entspricht schon ganz allein der neuronalen Struktur des Gehirns. Seit Mitte der 1990 Jahre wissen wir von den Spiegelneuronen. Genau sie versetzen uns in die Lage, am Modell oder durch das Vorbild zu lernen und das geschieht immer, bewusst und unbewusst. Wir sehen bei etwas zu und schon lernen wir und es bedarf bei Begeisterung gar nicht vieler Worte, eben einfach nur der Neugier und dem Versuch, dem sich Ausprobieren und ausprobieren lassen. Es ist eine völlig andere Erfahrung, ein eigenes Produkt, eine Idee zu haben und damit die Wirkung der neuroplastischen Botenstoffe im Kopf zu spüren, als durch Noten mit ihren positiven oder negativen Verstärkern diese Botenstoffe zu verhindern. Noten sorgen für die Außendrehung, die Botenstoffe im Kopf durch eigene Leistung für die Eigendrehung. Kreativität ist Eigendrehung.
Noten bedeuten auch, dass sich die nicht gut bewerteten Schüler ausgestoßen fühlen. Das verhindert wiederum die Produktion der für das Lernen notwendigen Botenstoffe und aktiviert außerdem die Schmerzzentren im Gehirn. An diesen Mangel einerseits und den Schmerz andererseits gewöhnen wir uns zwar mit Verdrängungsstrategien, aber das Lernen funktioniert deshalb trotzdem nicht, es geht objektiv biologisch nicht.
Natürlich widerspricht genau der Konstrukivismus den gängigen Vorstellungen vom Erzieher- und Pädagoge-Sein, da es hier nicht mehr um richtig und falsch oder eben „entweder oder“ geht, sondern immer um „sowohl als auch“. Hier kommt jegliches Lehrpersonal in einen Gewissenskonflikt. Dieser Konflikt hat eine Ursache darin, eben nicht mehr das Vorrecht auf die richtige Antwort zu haben, alleinig Wissen zu diktieren.
Die Fähigkeiten und Potenziale von Kindern im Alter von ca. 4 Jahren entsprechen denen von erwachsenen Menschen im Alter von 20, 30 oder auch 40 Jahren. Der neuronale Überschuss, und das ist biologisch bedingt, macht es möglich. Kinder im Alter von 6 und 7 Jahren sind uns Erwachsenen weit überlegen und wir glauben, diesen im übertragenen Sinne ständig saugendem Schwamm unsere Art zu lernen aufdrängen zu müssen. Es ist das Missverständnis von Erwachsenen im Umgang mit den Kindern, dass sie glauben, Kindern Lernen vermitteln zu müssen und alleinig im Besitz der Wahrheit zu sein.
Wir brauchen ein neues Berufsbild vom Erzieher und dem Pädagogen, das Bild eines Begleiters, eins Coaches, der keine andere Aufgabe hat, die SELBSTwerdung der Kinder zu unterstützen. Nur so kommen wir aus der überall erlebten Fremdwerdung und Massenkompatibilität heraus. Eine Frage, die sich dabei natürlich auftut ist: „Ist das überhaupt gewollt?“