Alle meine beruflichen Tätigkeiten waren und sind davon bestimmt, mit Menschen zu arbeiten. Dabei waren diese Personen entweder meine Chefs, Kollegen oder aber eben auch meine Unterstellten. Seit meiner Tätigkeit als Coach und Trainer, aber vor allem seit meiner Selbständigkeit hat dieser Umgang mit Menschen eine andere Bedeutung.
So, wie auch ich in den vergangenen Jahren für mich in Anspruch genommen habe, Menschenkenntnis zu haben, begegnen mir auch heute in meinen Seminaren, Schulungen und Coachings immer wieder sehr viele Menschen, die von sich behaupten, Menschenkenntnis zu haben. Da diese Kenntnis aber immer wieder auch zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führt, wollte ich einfach mehr darüber wissen. Also habe ich mich mit meinem heutigen Wissen auf den Weg gemacht und erfragt, woran alle diese Personen das, was sie als Menschenkenntnis bezeichnen fest machen.
Es lässt sich in der Aussage zusammenfassen, die da lautet: Wenn ich einen Menschen sehe, dann habe ich sofort ein Bild von ihm, das ich mit einem bestimmten Verhalten seinerseits verbinde. Genau das ist dann das, was ich mit ihm/von ihm erlebe. Nun, das ist bestimmt auch das, was die meisten Menschen darunter verstehen, aber genau das hat nichts mit Menschenkenntnis zu tun! Es ist Schubladendenken, ich möchte es als emotionalen Autismus bezeichnen. Es ist „keine zweite Chance für den ersten Eindruck“ oder „der erste Eindruck entscheidet“.
Der Prozess, den wir als „Menschenkenntnis“ bezeichnen ist nichts anderes, als uns begegnende Personen in Schubladen zu stecken. Das hängt mit unseren ganz persönlichen Erfahrungen zusammen. Diese Erfahrungen sind sowohl aus unserer jüngeren Vergangenheit, wie auch aus dem, was über viele lange Jahre zurück liegt. Alle diese Erfahrungen sind aber immer mit ganz bestimmten Einzelpersonen oder Personengruppen unter ganz bestimmten Bedingungen gemacht worden und wir selber haben uns entschieden, eine solche Erfahrung machen zu wollen. Eine Übertragung auf andere Personen und Situationen ist so pauschal, wie wir es tun, gar nicht möglich. Jeder Mensch ist anders, das wissen wir „eigentlich“ auch, wir leben es nur nicht. Auch wenn sich Menschen äußerlich gleichen oder bestimmte vergleichbare Verhaltensweisen zeigen, so handelt es sich doch IMMER UM EINEN ANDEREN MENSCHEN.
Alles, was wir in unserem Leben erleben und das schließt alle handelnden Personen mit ein, wird in unserem Gehirn bewusst und unbewusst abgespeichert. Diese Speicherung geschieht einmal rein faktisch/informativ mit Ort, Datum, Personen und Ereignis und dann zusätzlich in einem anderen Areal emotional und gefühlsmäßig. Das sind zwei völlig unterschiedliche Ebenen, auf die aber eben immer wieder zurückgegriffen wird. Da wir es im Verlauf unseres Lebens verlernt haben, Dinge einfach zu akzeptieren und wir lieber urteilen und verurteilen, wir nicht verstehen, dass alles, wie es ist, so sein muss, versuchen wir unser Leben und das Leben der uns umgebenden Personen zu manipulieren. Diese Manipulation schließt die Schmerzvermeidung durch Erfahrungen mit ein. Leider (Gott sei Dank) gelingt es uns aber nicht, alles und jedes zu manipulieren, aber immer noch uns selbst.
Bildlich gesprochen, ist unser Gehirn wie eine Bibliothek oder moderner gesagt, eine Videothek. Dort gibt es einen Bereich, in den alle dürfen und dann gibt es einen Bereich, der ist nur bestimmten Personen zugänglich. Der gesperrte Bereich ist tief in uns vergraben, das, was Siegmund Freud den „schwarzen Kontinent“ in uns, unser ganz persönliches Afrika, bezeichnete. Der öffentliche Bereich untergliedert sich in eine „helle Bibliothek“, in der alle von uns persönlich positiv bewerteten Informationen gespeichert werden. Und wo es Licht gibt, gibt es auch Schatten, also haben wir auch eine „dunkle Bibliothek“, in der alles das abgespeichert wird, was wir persönlich als negativ empfunden haben. In dieser Bibliothek sind alle Informationen auf Datenträgern, welchen auch immer, gespeichert. Die Datenträger sind untereinander auch noch unsichtbar verknüpft. Wir nennen das Assoziationen.
Jetzt können zwei Menschen genau das gleiche Erlebnis genau zur gleichen Zeit haben und trotzdem legen sie das Ereignis auf Grund ihrer persönlichen z. B. Lebenseinstellung oder Moralvorstellung unterschiedlich ab. Tritt nun eine ähnliche Situation irgendwann einmal wieder auf, gehen wir – und das ist völlig unbewusst, solange wir das nicht erkannt haben – in unsere Bibliothek. Dieser Gang geschieht in nahezu Lichtgeschwindigkeit und wir ziehen alle Datenträger, z. B. Karteikarten, auf denen die Informationen gespeichert sind, um zu suchen, wo und wie wir uns orientieren können. In diesem Prozess werden dann wieder über die Assoziationen die Emotionen und nachfolgend die Gefühle angesprochen. Haben wir positive Emotionen aus guten Assoziationen, so lassen wir uns auf die Situation ein, wir sind geistig und körperlich offen, unser Gehirn produziert Dopamin, den „Weihnachtsbotenstoff“ (Vorfreude). Werden aber negative Assoziationen angesprochen und damit eben auch negative Emotionen, so produziert unser Gehirn Kortisol, das Stresshormon und wir verschließen uns geistig und körperlich. Wir selber sorgen unbewusst dafür, wie die Situation verläuft. Unsere geglaubte „Menschenkenntnis“ ist nichts anders, als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, ob nun positiv oder negativ, hängt wieder ganz von unserer persönlichen Einstellung ab. So ist diese „Menschenkenntnis“ auch nicht objektiv, sondern rein subjektiv. Eine Peron, bei der mir meine „Menschenkenntnis“ sagt, dass hier Sympathie vorhanden ist, ist für einen anderen Menschen völlig unsympathisch.
Für alle Informationen und Situationen funktioniert unser Gehirn so, dass alles erst durch das limbische System, unser Emotionalhirn muss und dort einer Wertung unterzogen wird, bevor es eine Chance hat, im Kurzzeitgedächtnis anzukommen. Unser Emotionalhirn ist der große Bestimmer. Diese Emotionen sind aber in jedem Fall rein subjektiv und wir versuchen, sie als objektiv zu verkaufen. Von emotionalem Autismus spreche ich deshalb, weil wir uns eben nicht auf Andersartigkeit einlassen, weil wir es wieder bestimmen wollen und in der Hauptsache auf das achten, was uns entweder gefällt oder wir eben ablehnen. Wir bekommen das bestätigt, wonach wir suchen, für den „Rest“ sind wir blind. Im „Kleinen Prinzen“ können wir lesen „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Es sind nicht nur die Augen, die uns behindern, es ist der ganz persönliche (Un-)Verstand. Auch bei Goethe lesen wir „Weil du die Augen offen hast, glaubst du, du siehst“.
Ein Chef, der glaubt, durch „Menschenkenntnis“ sein Team zu schaffen, macht nichts anders, als um sich Leute zu scharen, von denen er glaubt, dass sie für ihn problemfrei sind. Er sucht sich das, was „tickt“, wie er es will. Aber „nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“, aber „an der Quelle ist das Wasser am saubersten“.
Wie funktioniert denn aber nun Menschenkenntnis, wie kommen wir raus aus dem emotionalen Autismus?
Seit Anfang der 90er Jahre des 20 Jahrhunderts wissen wir von den Spiegelneuronen. Sie funktionieren bei allen Menschen gleich. Wenn wir sie lesen können, erkennen wir, wie sich ein Mensch fühlt, was in ihm im Moment vor geht oder auch wie seine gegenwärtige Prägung ist. Spiegelneuronen geben ein objektives Bild, das bei allen Menschen gleich funktioniert. Das ist deshalb so, weil die biologischen und chemischen Vorgänge in allen Menschen die gleichen sind, die auslösenden Ursachen dafür aber unterschiedlich. So lasse ich mich über die Spiegelneuronen nicht mehr von der „hellen und dunklen Bibliothek“ leiten und kategorisiere Menschen in sympathisch und unsympathisch, sondern von dem, was Mitgefühl, Empathie oder auch soziale Kompetenz genannt wird. Jeder Mensch hat für mich eine Botschaft, ist ein Spiegel für mich. Die Königin in „Schneewittchen“ fragt nicht umsonst „Spieglein, Spieglein an der Wand …“.
Es sind nur die Spiegelneuronen, über die ich einen Menschen erkennen kann, sie sprechen mit mir, alles andere ist Vorurteil, Selbstbetrug und sich selbst erfüllende Prophezeiung. Menschenkenntnis heißt, sich auf andere Menschen einlassen, Vertrauen haben, das anders SEIN einfach zu akzeptieren und nicht zu urteilen.